Seit über 2400 Jahren fasziniert uns die Geschichte von Medea – jener Königstochter aus einem fernen Land, die Jason hilft das goldene Vlies zu erbeuten und die von ihm mit in seine Heimat genommen wird. Doch sie erwartet nichts Gutes. Als Fremde ist und bleibt sie Außenseiterin. Jene, die einst ihr Leben für den Geliebten aufgegeben hat, wird nun selbst aufgegeben – zugunsten seiner Karriere, zugunsten einer Jüngeren. Das Unsagbare geschieht: Medea ermordet in einem letzten Kraftakt ihre Kinder, um dem Mann, um der Gesellschaft, die sie in die Knie gezwungen hat, eins auszuwischen. Eine wilde unvorstellbare Geschichte. Doch – das wird einem nach einem Abend im TAG im Zuge der Bearbeitung des Stoffes durch Gernot Plass endgültig klar – so unvorstellbar und so weit weg unserer schönen neuen Zivilisation ist sie gar nicht, diese Geschichte. Denn auch hierzulande, wenn allwöchentlich die Polizeifahrzeuge vermehrt im Einsatz sind, weil aller Enden der Stadt der Ehekrieg tobt, gibt es ihn den Kampf der Paare. Zwischen den Fronten die Kinder, deren Kindheit mit jedem Streit, den sie miterleben müssen, immer mehr getötet wird. „Und sind wir nicht selbst getötete Kinder? Abgetötet? Abgerichtet? Hergerichtet von den Unseren und ihren Zusammenhängen, Institutionen, Staaten, Systemen?“, fragt Plass im Programmheft.

„Unsere Scheiße wegschaufeln“

Auf der Bühne wird diese Frage wohl am überraschendsten anhand der Figur der Kreusa (bei Plass Elisa) verhandelt. Die Tochter des Bürgermeisters (Jens Claßen als umgeschriebener König Kreon) ist hin- und hergerissen zwischen den Anforderungen der modernen Gesellschaft. Karriere möchte sie machen und Kinder möchte sie haben – alles mit dem Mann, den sie sich selbst ausgesucht hat. Sie ist es, die Jason (bei Plass Walter) zwingt die Kinder von Medea (hier Andrea) zu erstreiten nur um sie dann ins Internat abschieben zu können. In ein Umerziehungslager, wie sie Medea/Andrea gegenüber bekennt, wo sie lernen sich zu beugen und „unsere Scheiße wegzuschaufeln“. Darin mag man zum einen Kritik an unserem Schulsystem erkennen, zum anderen aber wird auch das viel benutzte Wort der Integration sarkastisch aufgeladen. Medea/Andrea selbst soll hingegen zurück in ihr Hinterwäldlerland. Für eine derartige Primitive ist kein Platz in unserer von schicken Restaurants, Serviettenhaltern und Lebensabschnittspartnern bestimmten Welt. Doch so leicht lässt sich die/das Andere nicht ausschalten. Auch Medea/Andrea ist – wenig neu – kein Engel. Während Jason/Walter als Mitläufer jeglichen Konflikt scheut, ist seine Ex auf alles vorbereitet. Von einer Affäre mit dem Bürgermeister existieren Bilder. Doch der Bürgermeister siecht ohnehin alsbald an einem Magen-Darm-Infekt – oder wurde er doch vergiftet? – dahin.

Dass das alles mit einer gehörigen Portion an Humor – gespickt von Ironie bis Sarkasmus – geschieht, ist sowohl den geistreichen flotten Dialogen von Plass wie dem erneut unglaublich packenden Spiel des Ensembles zu verdanken. Es ist schon beinahe langweilig dies zu betonen: Vor allem Michaela Kaspar und Jens Claßen laufen erneut zur Höchstform auf. Ein durch und durch interessanter Abend, der von Emanzipation über Selbstermächtigung und Postkolonialismus bis hin zu Kapitalismus und Menschenrechten alles offenkundig anspricht. 100 Minuten geballte (Theater)Power.

MEDEA. Ich, ich, ich, ich!
Uraufführung
Von Gernot Plass
Sehr frei nach „Medea“ von Euripides
Weitere Termine: Do 9., Fr 10., Sa 11., Di 14., Mi 15., Fr 17. und Sa 18. Jänner 2020, 20.00, Fr 28. und Sa 29. Februar 2020, 20.00 Uhr

TAG – Theater an der Gumpendorfer Straße
Gumpendorfer Straße 67
1060 Wien
www.dastag.at

Titelbild © Anna Stöcher

Geschrieben von Sandra Schäfer